Semesterticket für 65.000 Studierende gefährdet
Bereits jetzt führt der Verkehrsverbund Bremen/Niedersachsen mit seinem Verbund- Semesterticket (kurz: VBN-Ticket) für Studierende in Bremen und Niedersachsen die Liste der bundesweit teuersten Semestertickets an – und das bei geringeren Leistungen. Nach Jahren weit überdurchschnittlicher Preiserhöhungen hat das VBN-Ticket ein Preisniveau erreicht, das auch solidarisch nicht mehr tragbar ist. Deshalb hat die deutliche Mehrheit der betroffenen Studierenden-Vertretungen Ende 2019 eine erneute Erhöhung der Ticketpreise für Oktober 2020 abgelehnt und deutlich günstigere Semestertickets gefordert. Nach Monaten intensiver Verhandlungen um neue Verträge ist inzwischen klar: Der VBN und die einzelnen Verkehrsunternehmen sind grundsätzlich nicht bereit ihre Preispolitik in Frage zu stellen und haben wiederholt mit der Kündigung des Semestertickets gedroht. Die Zukunft des Tickets entscheidet sich diese Woche.
Bisher funktioniert das Semesterticket als “Solidarmodell” für ca 65.000 Studierende im Geltungsbereich des VBN, VEJ und VGC: Jeder Studi ist zum Kauf dieses Tickets verpflichtet, um studieren zu dürfen – unabhängig davon, ob es konkret gebraucht wird oder nicht. So werden die Kosten für den Nahverkehr auf viele Schultern verteilt. Das sollte den ÖPNV attraktiver machen und dafür sorgen, dass die Fahrt von der Wohnung zur Hochschule, eine Mindestmobilität für Studierende, für alle bezahlbar bleibt – sowohl für die, die für ihr Studium existentiell auf den ÖPNV angewiesen sind, als auch für diejenigen, die ohnehin lieber Rad fahren oder wegen schlechter ÖPNV-Anbindungen und teurer Mieten in Hochschulnähe mit dem Auto zur Universität oder Hochschule pendeln.
Dieses Modell funktioniert jedoch nur, wenn der Ticketpreis im Rahmen bleibt. Das wiederum ist längst Geschichte:
Gestartet ist das Ticket für den Stadtbereich Bremen 1993 mit einem Preis von 73,98 DM. Aber allein in den letzten 10 Jahren erhöhte sich der Preis des Semestertickets im Durchschnitt um fast 10 Euro pro Jahr auf aktuell 138,40 Euro. Und wenn es nach den Anbietern des VBN-Tickets geht, soll es auch in den nächsten Jahren noch teurer werden.
Dabei gab es in der Vergangenheit zusätzlich zu den durchschnittlichen +8% zu jedem Wintersemester zuletzt im Herbst 2018 mit +14% eine enorme Preiserhöhung.
Auch der Anteil des Landesweiten Semestertickets Niedersachsen, der noch dazu kommt um Bahnstrecken außerhalb des Verbundgebietes abzudecken soll in den nächsten anderthalb Jahren erst einmal teurer werden.
Mit insgesamt bis zu 400 Euro verpflichtenden Semesterbeiträgen zusätzlich zu Lernmaterialien, Miete und Lebensunterhalt stellt sich schon lange die Frage, wer sich ein Studium hier überhaupt noch leisten kann. Der Anteil, den der VBN zu diesem Problem beiträgt, wirkt längst über die Landesgrenzen hinaus:
“Studieren in Bremen oder Oldenburg kommt tatsächlich kaum noch in Frage, wenn wir hier in Osnabrück für das selbe Ticket deutlich weniger zahlen”
Jens Klärner, Student in der Verkehrs-LandesAStenKonferenz Niedersachsen
Dies gilt erst recht, wenn es tatsächlich zu der angedrohten Kündigung des VBN-Tickets kommen sollte. Dann tragen eben nicht mehr alle Studierenden gemeinsam und solidarisch diejenigen, die für ihr Studium unbedingt auf den ÖPNV angewiesen sind, weil sie sich kein Auto leisten können oder wollen oder schlecht zu Fuß sind: dann fährt in Bremen der Großteil per Rad und ein kleiner Teil muss zusehen, wie er sich ohne gebotene Mindestmobilität den Weg zur Uni leistet.
Auch für die Anbieter des VBN-Tickets hätte das weitreichende Konsequenzen: Allein beim VBN stellte das Verbundticket der Studierenden im Jahr 2018, schon vor der aktuellen Corona-Krise, etwa 10% aller Fahrten und 15% des gesamten Jahresumsatzes dar – als sichere planbare Einnahme. Während des Lockdowns werden die Studis einen rasant steigenden Teil der Umsätze ausmachen, obwohl sie das Ticket nicht einmal gebrauchen können: Präsenz-Veranstaltungen an den Hochschulen sind dieses Semester vorerst abgesagt.
Die Vorteile, die das Verbund-Semesterticket auch für die Verkehrsunternehmen bietet, bilden sich längst nicht mehr im Preis des speziellen Tickets ab. Ansonsten übliche Vergünstigungen für Zeitkarten oder große Abnehmer (vgl. mit Mengenrabatten für Kundenbindung in der Wirtschaft) werden den Studis nicht entsprechend geboten.
„Seit Jahren setzten uns die Unternehmen immer teurere Preise ohne vernünftige Begründung vor, profitierten von regelmäßig wechselnden Studierenden-Vertretungen und drohten sonst nach der Logik ‘friss oder stirb‘ mit der Kündigung – damit muss endgültig Schluss sein!”
Cynthia Wolter, Vorsitzende vom AStA der Jade Hochschule
Der Jade Hochschule wurde nach Protesten gegen die 14-prozentige Preiserhöhung auch tatsächlich vor einem Jahr gekündigt. Erst nach dieser Kündigung und einer Charme- Offensive des VBN mit vielen Versprechungen hatte sich die Studierendenschaft dann doch für die Annahme des neuen Preises entschieden. Eingehalten wurde von den Versprechen bisher keines. “Den Fehler machen wir nicht noch einmal.”, so Wolter.
Die Anbieter um den VBN wiederum schieben die Verantwortung der Landespolitik zu: “Es ist nicht unsere Aufgabe für die Sozialverträglichkeit unserer Tickets zu sorgen.”, so Rainer Counen, Geschäftsführer und Verhandlungsführer für den VBN.
„In Zeiten, in denen die Corona-Krise Studierende von allen Seiten trifft und die Verkehrsverbünde gleichzeitig Mittel von der Landespolitik fordern, um sich ihre Verlustausfälle finanzieren zu lassen, ist so eine Haltung schlicht unverschämt.“
Luna Grommes vom AStA-Vorstand der Hochschule Bremen
Auch der Verhandlungsführer der Studierenden-Vertretungen, Marlin Meier von der Universität Bremen, bedauert die festgefahrene Position der Verkehrsbetriebe: “Während wir uns in allen anderen Punkten des Vertragstextes sehr konstruktiv verständigen und letztlich einigen konnten, verweigert das Verhandlungsteam des VBN in den Punkten Preis und Preisentwicklung jede Debatte. Dabei ist längst klar: Zum bisherigen Preis ist das Ticket für uns nicht länger tragbar.”
Das Bündnis der Studierenden hat bereits zum 17.01.2020 einen Vorschlag erarbeitet, der die Argumentation der Anbieter, die Vergleichbarkeit mit dem deutlich teureren Schüler- Monats-Ticket, aufgreift, aber gleichzeitig den wesentlichen Unterschieden der Tickets angemessen Rechnung trägt. So liegt der Preis von 126,30€ deutlich unter dem aktuellen Ticketpreis, basiert jedoch aus Sicht der Studierendenvertretungen auf einer den Verkehrsbetrieben noch sehr entgegenkommenden Rechnung.
Zur Preisentwicklung hat das Bündnis den einfachen Vorschlag gemacht, die Tarifentwicklung des Semestertickets an die Tarifentwicklung der zur Referenz dienenden Schüler-MonatsTickets zu koppeln. Gegenüber dem VBN-Vorschlag, einer Index- basierten Preisformel, erspart das den Streit um die bisher auch auf Nachfrage hin noch völlig unbegründete Gewichtung der jeweiligen Indizes und bezieht ein, dass der Ticketpreis sich nicht nur aus Neuanschaffungen und Personalkosten etc. zusammensetzt, sondern wesentlich auch etwas damit zu tun haben sollte, was an öffentlichen Mitteln in den ÖPNV gesteckt wird. Während das Preismodell des VBN festschreiben würde, dass das Ticket für Studierende unabhängig von öffentlichen Zuschüssen jedes Jahr nur teurer wird, bietet das Modell des ASten-Bündnisses die Möglichkeit dafür, dass auch Studierende etwas von der Verkehrswende und mehr öffentlichen Geldern für den VBN haben könnten, für die sie gemeinsam mit den Vertragspartnern gegenüber der Landespolitik streiten.
Zustimmung bekommt das Verhandlungsteam darin unter anderem auch von Fridays For Future:
“Wir als junge Generation sind nicht bereit, die Rechnung für eine verfehlte Verkehrs- und Klimapolitik gleich doppelt zu zahlen. Der ÖPNV muss endlich günstiger werden.”
Dominik Lange von Students For Future
Dass sich der VBN in beiden Punkten nicht bewegt hat und dann auch noch die Festschreibung ihrer gewünschten Preiserhöhung für weitere Jahre als “Entgegenkommen” verkaufen will, zeigt, wie weit sich die Vorstellungswelt der Unternehmen von der Lebensrealität der Studierenden entkoppelt hat.
„Die Zeiten, in denen man Studis Jahr für Jahr mehr Geld aus der Tasche ziehen konnte, sind längst vorbei. Erstens haben wir schlichtweg kein Geld mehr dafür übrig und zweitens haben wir auch politisch die Strukturen geschaffen, unsere Interessen langfristig und hochschulübergreifend gemeinsam stark zu machen, statt uns gegeneinander ausspielen zu lassen.”
Marlin Meier, Vertreter des AStA der Uni Bremen
Viel Zeit für eine Einigung bleibt nicht: Bis Mitte Mai muss definitiv feststehen, ob es das VBN-Ticket ab WS 20/21 weiterhin geben wird und was es zukünftig kostet, weil dann die ersten Zahlungsaufforderungen für Semesterbeiträge an Studierende rausgehen.
Für den Fall, dass es zu keiner Einigung kommt, müssen die Studierendenvertretungen deshalb auch schon jetzt genau die Kündigung vorbereiten, mit der die Anbieter immer wieder drohen.
Die Verantwortung für fast 65.000 Studierende, die diese Kündigung in Bremen und Umgebung treffen würde, ist den ASten sehr klar – aber um den Teufelskreis an ständig teureren Semestertickets und immer größerer Abhängigkeit von den Anbietern zu durchbrechen, sehen die Studierendenschaften keinen anderen Weg als einen klaren Reset, wenn sich der VBN im Namen aller Anbieter nicht auf das Angebot einlässt.
An Alternativmodellen zur Sicherung der für ein Studium nötigen Mindestmobilität arbeitet man bereits. Auch dort soll weiterhin das Solidaritätsprinzip gelten, damit maßgeblich Studis in besonders prekärer finanzieller Situation von der Solidargemeinschaft aufgefangen werden. Gefordert ist hier aber auch die Landespolitik. Bereits jetzt ist die Last der Härtefälle, die sich die ÖPNV-Tickets nicht mehr leisten können, nicht mehr von den ASten tragbar.
Entscheiden wird sich die Frage voraussichtlich am 4. Mai – dem letzten seitens der Studierenden angebotenen Verhandlungstermin zum VBN-Semesterticket.